Seltsame Mischung aus Positivismus und Fußballpatriotismus

2007-04-17 Aus Von christiankohl

So heißt wohl so ziemlich der beste Artikel zum Thema Fußball, den ich je gelesen habe. Deshalb komplett als Zitat, Quelle ist direkter-freistoss.de.

von Detlev Claussen

Was für ein Abend! Der Ball lief gut, der Gegner auch. Es bedurfte nicht einmal besonderer Bremer Wetterkapriolen wie undurchdringlichen Nebel oder sturmgepeitschten Dauerregens, um ein neues europäisches „Wunder an der Weser“ möglich zu machen. Um aber nicht gleich des Fußballromantizismus verdächtigt zu werden: Der 4:1-Sieg über Alkmaar muss wie ein Wunder erscheinen, wenn man die Pressekommentare zum Hinspiel vor Augen hat („als Kombinationsfußballer getarnte Biedermänner“). Haben Kritiker dieser Art, die zweifellos Ahnung vom Fußball haben, nur nicht richtig hingeschaut, oder unterliegen sie einfach nur einer deformation professionelle, an die an dieser Stelle einmal kurz erinnert werden sollte?

Die zwei Tore von Miroslav Klose ließen die Unsitte der Minutenzählerei kurz in aller Lächerlichkeit erscheinen. Die Einfallslosigkeit der Berichterstattung wird dem Leser als „Objektivität“ untergejubelt. Statt selbst nach einer Begründung zu suchen, wird dann der Spieler Spieltag für Spieltag aggressiv befragt, um das Unerklärliche zu erklären. Er steht dann entweder als realitätsleugnender Volltrottel da oder als einer, der die Verantwortung von sich schiebt. Interviews dieser Art tragen nicht zur Aufklärung bei. Klose hat nach dem Spiel darauf verzichtet, sich nun glücklich lächelnd vor die Kamera zu stellen, um der Jungfrau Maria für die Hilfe zu danken, dass er doch noch mit Fuß und Kopf das Tor treffen kann; denn der Positivismus der torlosen Minuten wird durch den Glauben an die irrationalen Mächte im Fußball komplettiert. Der „Torjäger“ selbst ist ein Tribut an die Wahrnehmungsverzerrung des Fußballspiels durch die Medien, die aber realitätsbestimmend werden kann. Wird das Spiel auf den Goalgetter ausgerichtet, brauchen Zuschauer und Medien nur noch auf ihn zu achten – allerdings auch die gegnerische Abwehr. Der Torjäger wird in den Himmel gehoben; der Torjäger, der nicht trifft, in die Hölle verdammt. Der spielende Mittelstürmer vor allem in Deutschland wird von den Medien unterschätzt; die meisten konnten es nie verstehen, warum Bayern-Star Roy Makaay in der holländischen Auswahl nie als Nummer eins gehandelt wurde. Die Scorer-Liste, die kaum in einer deutschen Tageszeitung veröffentlicht wird, sagt viel mehr aus als die Torjägerliste; denn sie klärt mit Zahlen über das Sturmspiel auf. Findet der assist mehr Anerkennung, würde auch mannschaftsdienlicher gespielt. Das unsinnige Draufknallen aus aussichtsloser Position („Den muss er selber machen“) lässt sich Spieltag für Spieltag beobachten, aber diesem Typ des Chancentods wird viel weniger Beachtung geschenkt als den „torlosen Minuten“. Klose liefert ein sehr gutes Beispiel für einen spielenden Angreifer; er sammelte weiter Scorer-Punkte, als er längere Zeit nicht selber traf – auch schon in der torreichen Zeit Werders im Goldenen Oktober 2006. Die Minutenzählerei ist nicht nur einfallslos, sondern hat schädliche Wirkung für die Spielkultur.

Der Donnerstag brachte nicht nur die Kloses Wiederauferstehung, sondern auch die des Bremer Kombinationsfußballs. Als Erklärung seien einige Hinweise angeboten: Die k.o.-Runde eines europäischen Pokals prämiert nach einem 0:0 im Hinspiel das Erzielen eines Tores. Beide Mannschaften gaben ihr bestes, um jeweils ein weiteres Tor zu erzielen. Selbst nach dem 3:1 konnte Bremen sich nicht sicher sein, die nächste Runde schon erreicht zu haben, während Alkmaar immer mehr riskieren musste, um noch im Rennen zu bleiben. Beide Mannschaften suchten ihr Heil im Kombinationsfußball; deswegen kam auch die Erinnerung an das 1:1 gegen Barcelona in der Gruppenphase der Champions League auf, die Werders Goldenen Oktober eingeleitet hatte. Ein wesentlicher Aspekt für den Erfolg in dem Kräftevergleich mit Alkmaar auf Augenhöhe ist in Tim Borowskis Rückkehr zu sehen. Im Herbst 2006 hatte er noch nicht wieder seine WM-Form erreicht; jetzt gab er Werder ein Übergewicht an Aggressivität nach vorne, die eben die Spitzen besser zum Einsatz brachte als je zuvor. Durch seine eigne Gefährlichkeit schuf er Diego endlich wieder die Freiräume, die ihm durch gnadelose Defensivkicker wie Cottbus geraubt wurden. Statt mit den üblichen vieren hatte Diego es diesmal meist nur mit zweien zu tun – ein Abend voller Herrlichkeit. Klose bekam nun die Bälle, die er braucht, in einer anderen Anzahl und Qualität. Ende der torlosen Minuten. Nicht Klose hat sich verändert, sondern ein verändertes Spiel ermöglichte auch Klose einen entscheidenden Schub. Genauso wichtig: Tor Nummer 4. Diego schloss eine One-touch-Staffette ab, die im Bundesligaalltag enger Defensivtaktik nicht naheliegt. Hans Meyer weiß eben, was er tun muss, um nicht haushoch in Bremen zu verlieren; sondern die Bremer wie „Biedermänner“ aussehen zu lassen.

Neben der Torjägerfixierung ist eine der Hauptquellen verzerrter Wahrnehmung der Fußballpatriotismus. Im rückwirkenden Vergleich der internationalen Ergebnisse der letzten Woche wird dies deutlich: drei englische Vereine im CL-Halbfinale, drei spanische im Uefa-Cup-Halbfinale, dazu Milan und Werder. Fehlerquelle Nummer eins: Die Vereine repräsentieren nicht die Nationen, sondern die jeweiligen Fußballgesellschaften mit ihren spezifischen Fußballkulturen: Premier League, Serie A, Primera Division, Bundesliga. Die Ligen sind sicher durch ihre finanziellen Möglichkeiten mitbestimmt, aber keineswegs ist der Vulgärökonomismus vom Geld, das Tore schießt, gerechtfertigt. Hier wird Empirie missbraucht, um das Vorurteil zu legitimieren. Über die längste Zeit gesehen, sind trotz aller ökonomischen ups and downs die englischen Clubmannschaften die erfolgreichsten in den europäischen Wettbewerben. Die englische Fußballgesellschaft hat sich als die flexibelste, multikulturellste und internationalste erwiesen trotz einer erschreckend chauvinistischen medialen Fußballöffentlichkeit erwiesen. In der Premier League wird nicht nur ein vielfältiger Fußball gespielt, mehrere Topvereine haben sich für eine internationale Spielkultur geöffnet: Trainernamen wie Benitez, Wenger, Houllier sprechen für den Premier-League-Fußball, von dem die Kontinentaleuropäer nur die europäische Spitze sehen. Kommt es zum Nationalmannschaftsfußball, erschreckt die Gnadenlosigkeit, mit der die einheimischen Stars niedergemacht werden, von denen die Medien die gleichen Erfolge erwarten wie im Vereinsfußball. Die Differenz zwischen Clubs und Nationen wird von den englischen Fußballpatrioten strukturell übersehen.

In Deutschland gilt diese fußballpatriotische Identifikation vor allem mit dem FC Bayern. Der enttäuschte Patriotismus kippt nach jedem Ausscheiden in der Champions League um, wird dann mit dem Kleinreden der nationalen Konkurrenz beantwortet. International wird der Erfolg der anderen mit dem größeren Geld begründet, für eignen nationalen Misserfolg gibt es dann gar keine Gründe mehr. Das macht die gegenwärtige Ratlosigkeit aus. Die Abwertung des Uefa-Cups aus Bayernsicht gehört zum strukturellen Größenwahn, mit dem man auch keine Champions League gewinnen kann. Viele große Mannschaften haben sich im Uefa-Cup ihre ersten internationalen Sporen verdient, bevor sie in der Champions League reüssierten. Selbst den Bayern hat der von Otto Rehhagel (aus Beckenbauers Sicht kein Erfolg) vorbereitete Triumph 1996 gut getan, bevor sie zum letzten Mal die Champions League gewannen. Der Uefa-Cup ist nämlich keineswegs ein „Cup der Verlierer“ (Beckenbauer), sondern eine europäische Hochschule des Fußballs, die nur sehr schwer erfolgreich zu absolvieren ist. Der ganze Wettbewerb ist viel weniger vorausberechenbar als die Champions League. Durch die vielen Spiele ist er sehr anstrengend geworden, stellt hohe Ansprüche an die Ausgeglichenheit der Kader, die auch für die Präsenz vieler spanischer Mannschaften in der Endphase spricht, die mit großen Kadern arbeiten. Die Substanz dieser spanischen Mannschaften besteht zu einem sehr soliden Teil aus der Massenbasis des lateinamerikanischen Fußballs, der aus den fragwürdigen Extraprofiten der spanischen Bauindustrie bezahlt wird. Weder zu den englischen noch den spanischen Finanzierungstechniken sollte man jemals in Konkurrenz treten wollen. Die Serie A taumelt schon am Rande des Abgrunds; die Herrlichkeit kann ganz schnell zu Ende sein. Die Extraökonomie des Fußballs garantiert keine nachhaltigen Erfolge. Leeds und Dortmund lassen grüßen. Über den Uefa-Cup aber lernt man auch Mannschaften und Spieler kennen, die der Humus des Champions-League-Fußballs sind. Wenn Bayern wirklich eine neue Mannschaft aufbauen wollte, dann wäre die Teilnahme am Uefa-Cup 2007 keine Katastrophe, sondern ein Lernprogramm; aber das Wortgerassel aus München deutet in eine ganze falsche Richtung: das Festgeldkonto plündern, um ein paar Stars zu holen. Das macht keine Mannschaft aus.

Auch im Spitzenfußball geht es nicht nur um Clubs, sondern auch um Mannschaften, die vergängliche Gebilde sind. Der Zyklus, der an die Spitze führt, an der sich keiner mehr lange halten kann, ist langwierig; der Aufbau einer Topmannschaft dauert wenigstens drei Jahre und in starken Ligen wird sie vielleicht nicht einmal Meister. Wenn man sich nicht schon den mühsamen Weg von Chelsea anschauen will, dann sehe man auf Alex Ferguson und sein ManU, die dieses Jahr zum Favoriten der Champions League avanciert sind. Wie viel Geld, Mühe und Know How steckt dahinter? und die Bayernführer wollen nur mal kurz in die Kasse greifen … Für diejenigen, die hinter den Top Ten der Ökonomie (zu denen Bayern ja gehört) kommen, ist die Sache ungleich komplizierter. Bauen sie ein gute Mannschaft auf, der sogar eine nationale Meisterschaft gelingt, drohen ihnen die Stars weggekauft zu werden, bevor der ganz große internationale Erfolg kommt. Porto hat es bis zum Champions-League-Sieg geschafft, bevor sie ausgeraubt wurden, Lyon trotz großartiger Kontinuität noch nicht einmal bis dahin. Als Konsequenz der diesjährigen europäischen Erfahrung von Werder und seinem wunderbaren Abend gegen Alkmaar lässt sich sagen: Erfreuen wir uns an Diego, Klose und Frings, solange sie in dieser Mannschaft spielen; aber erwartet nicht mehr von Werder Bremen als ihr von Porto, Benfica und Sevilla erwartet. Mit diesen Teams seit drei Jahren auf einem Level zusammen zu spielen, ist doch das wirkliche Wunder von der Weser.