Dumme Deutsche
„Die großen Trainer arbeiten mit einem klaren Konzept“
Urs Siegenthaler, Chef-Scout beim DFB, über modernen Fußball und die englische Dominanz in der Champions League
Herr Siegenthaler, als Chef-Scout der deutschen Nationalmannschaft sehen Sie von Berufs wegen viele nationale und internationale Fußballspiele. Welche Mannschaften haben Sie in der jüngeren Vergangenheit besonders beeindruckt?
Ich habe den AS Rom zwei Mal gesehen. Natürlich haben sie mir beim 1:7 gegen Manchester United leid getan. Sie wollten immer noch Fußball mitspielen, aber an so einen Tag, an dem jeder Schuss des Gegners ein Treffer ist, geht das natürlich daneben. Aber die machen mir einen sehr soliden Eindruck und spielen modern nach vorne.
Habe ich Sie richtig verstanden, der AS Rom?
Sie spielen sehr guten, sehr stabilen Fußball, ja.
Nennen Sie noch ein Beispiel.
Die Nationalmannschaft Dänemarks hat mich auch beeindruckt. Die habe ich in der EM-Qualifikation gegen Spanien gesehen…
Dänemark hat 1:2 verloren.
Stimmt, aber von der Idee, von der geistigen Bereitschaft, wie schnell sie nach vorne spielen, mit welcher Intensität sie das machen, war das erstaunlich. Wenn man nicht ganz so resultatsbezogen urteilt, kann ich schon sagen, dass ich da guten Fußball gesehen habe.
Lassen Sie uns mal für einen Augenblick resultatsbezogen sein. Am Dienstag beginnt das Champions-League-Halbfinale mit drei englischen Mannschaften.
Das hat aber nichts mit England zu tun. Der englische Fußball hat zuletzt eher stagniert. Die englischen Mannschaften dominieren, weil sie im Moment eine Sammlung der besten Spieler haben: Die besten Franzosen, die besten Italiener, die besten Spanier. Xabi Alonso oder Sissoko, das sind Leute von absolutem Weltformat und von hervorragendem Ausbildungsstandard. Dazu kommen die besten Trainer wie José Mourinho bei Chelsea, Arsène Wenger bei Arsenal und Rafael Benítez bei Liverpool. Die finanziellen Möglichkeiten sind dort natürlich auch gegeben. Und so paart sich eine positive Gegebenheit mit der anderen.
Wie viel Prozent des Erfolgs machen aus Ihrer Sicht gute Spieler aus, und wie viel ist einer guten Organisation des Spiels in einer Mannschaft geschuldet?
Jetzt müssten wir erst einmal definieren, was ein guter Spieler ist.
Dann definieren wir mal.
Ein Spieler, der unter Bedrängnis die mentale Bereitschaft hat, nicht zu Notlösungen zu greifen. Ein gutes Beispiel ist Philipp Lahm, der sehr oft in Bedrängnis eine gute Lösung bereit hält und sich mit einem geschickten Pass oder einem geschickten Dribbling aus einer heiklen Situation retten kann.
Wenn man elf solcher Spieler zusammen hätte, könnte man dann automatisch mit Chelsea, Manchester oder Liverpool konkurrieren?
Die deutsche Nationalmannschaft und die führenden Vereine haben ja bewiesen, dass es vor allem darauf ankommt, mit einem langfristigen Konzept zu arbeiten und eine Strategie festzulegen. Die ganz großen Trainer arbeiten alle mit einem klaren Konzept. Es ist für eine Mannschaft enorm wichtig, wenn der Trainer sagt, was er will und wie er es umzusetzen gedenkt.
Was ist denn das Konzept des FC Bayern?
Es steht mir nicht zu, das zu beurteilen. Ich bin auch nicht der Weise aus dem Morgenland.
Aber sie bilden seit 25 Jahren Trainer aus. Bei welchem Klub in Deutschland erkennen sie eine Spielidee?
Ich denke, Werder Bremen macht das jedes Jahr ganz geschickt. Sie spielen attraktiven Fußball.
Was braucht man noch außer guten Geldgebern, um mit attraktivem Fußball auch die Champions League zu gewinnen?
Was mich am meisten beeindruckt in England, ist die Tatsache, dass Manchester United mit Alex Ferguson an einem Trainer festgehalten hat, der fast fünf Jahre lang mehr oder weniger keinen Erfolg hatte. Und doch wird einfach in aller Ruhe weiter gearbeitet, nicht gezweifelt. Man weiß, der Mann ist gut. Und jetzt ist er wieder ganz vorne dabei. Wenn wir in Deutschland etwas übernehmen könnten, das kein Geld kostet, dann ist es diese Überzeugung für einen Trainer und sein System. Es hilft nicht weiter, beim ersten Sturm alles gleich wieder in Frage zu stellen.
Was unterscheidet einen guten von einem hervorragenden Trainer?
Große Trainer zeichnet aus, dass sie ihrem Konzept treu bleiben. Das wird an kleinen Beispielen deutlich. Sie wechseln beispielsweise immer nach einem bestimmten Schema aus. Da wird nicht einfach nach Eindrücken entschieden. Die großen Trainer, die ich kenne, sind sehr beflissen, sehr akribisch in der Detailarbeit. Wenn sie sagen, es soll Flachpass gespielt werden, dann unterbrechen sie, wenn der Ball zehn Zentimeter hoch hoppelt.
Der ehemalige Arsenal-Coach Herbert Chapman hat schon in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts behauptet, dass Angriffe dann am gefährlichsten sind, wenn sie innerhalb von acht Sekunden abgeschlossen werden. Stimmt diese Regel noch?
Es gibt Trainer auf Top-Niveau, die solche Trainingseinheiten durchführen. Aber ob das jetzt acht oder zehn Sekunden sind, ist egal. Es geht nicht um die genaue Zeit, sondern um Handlungslösungen in der Offensive. Eine davon kann eben das schnelle Spiel in die Sturmspitze sein.
Dominiert der englische Tempofußball vielleicht auch deshalb, weil der Rest in Europa noch immer im Zeitalter der Verteidiger lebt?
Das ist eine Gegebenheit, die wir versuchen müssen zu akzeptieren. In etwa ab dem Moment, als Frankreich 1984 Europameister wurde, begannen wir alle, die aktiv im Trainerumkreis tätig sind, mit dem 4-4-2. Das ist ein System, das von den Spielern vor allem Ordnung und Disziplin verlangt. Es ist wesentlich einfacher, das in der Defensive umzusetzen. Es hat sich eine Trainergeneration herangebildet, die das perfektioniert hat – übrigens auch in Deutschland, wenn ich an Thomas Schaaf oder Ralf Rangnick denke.
Wo ist dann das Problem?
Vielleicht haben wir in diesen zwei Jahrzehnten versäumt, auch mal Handlungslösungen für die Offensive anzubieten. Das war für mich eine Erkenntnis, die ich mit dem Trainerstab der deutschen Nationalelf nach der Weltmeisterschaft besprochen habe. Es gab vielleicht ansatzweise bei Argentinien ein Offensivspiel, bei dem man sagen könnte, das wurde mal so trainiert. Und alles andere war dann mehr oder weniger auf Zufall aufgebaut.
Was haben die Argentinier denn genau gemacht?
Ein typischer Spielzug von ihnen begann mit einem Pass in die Vertikale auf Riquelme, dann ging das Spiel auf die Außen, Sorín oder Cambiasso, zu. Und wenn es wieder in die Mitte zu Riquelme ging, kam immer der Pass in den Sechzehner. Dieser Ball in die Tiefe wurde blind gespielt. Es war für mich augenfällig, dass jeder wusste: Wenn der Pass nach außen wieder zurückkommt, folgt ein tiefes Zuspiel.
So ähnlich fiel auch das zweite von sieben Toren, das Manchester gegen Rom erzielte. Das hat Ferguson bestimmt auch einstudiert.
Kann sein. Das funktioniert aber auch nur, weil er Leute hat, die solche Handlungslösungen nach vorne automatisiert haben. Die geistige Bereitschaft, auf engem Raum das Richtige zu tun, das muss irgendwann im Jugendbereich trainiert werden. Sonst ist das nicht mehr aufzuholen. Sie können sich nicht einfach vor Juventus Turin stellen und sagen: Ich bin der neue Trainer, ab morgen spielen wir einfach schneller.
Machen der FC Liverpool, Manchester United und der FC Chelsea die Champions League also letztlich in einem Geschwindigkeitsvergleich unter sich aus?
Ich denke schon, dass der AC Mailand in diesem Halbfinale die schwächste Mannschaft ist. Sie ist clever, sie ist erfahren, sie bringt nichts so schnell aus der Ruhe. Aber vom Spieltempo her, könnte ich mir vorstellen, wird Milan Probleme bekommen. Bei den anderen ist es eine Frage der Tagesform.
Interview: Boris Hermann